„In Mariens und Gottes Namen!“ Mit diesem Ruf brechen wir, eine Gruppe von 46 Fußwallfahrern, im Dunkeln um 3.30 Uhr am Angerer Dorfplatz an der Mariensäule auf. Dort wird den ganzen Tag eine Kerze für unsere Anliegen, ob Bitte oder Dank, brennen. Pfarrer Ionel Anghel gibt uns den Segen. Dann geht’s los. 32 Kilometer liegen vor uns.
     Im „Marianischen Jahr“ 1987, vor genau 30 Jahren, pilgerten die Angerer auf Initiative des 1996 verstorbenen Schusters Franz Maier erstmals nach Maria Kunterweg in Ramsau. Nur einmal musste die Wallfahrt ausfallen, weil die Wachterlstraße gesperrt war. So ist es heuer das 30. Mal. Gemächlich, aber doch sehr zügig bewegt sich unser Zug vorwärts. Ich komme gut in meinen Schritt. Immer wieder gesellen sich unterwegs Pilger dazu, erstmals an der Fatima-Kapelle in Aufham. Der weiche Wiesenweg zu Fuß des Staufens durch einsame, schmucke Gehöfte ist ein Genuss nach dem ersten Stück Teerstraße.
   In Urwies lädt uns unsere Wallfahrts-Begleiterin Ulrike Traxl ein, schweigend durch den Wald zu gehen. Nach und nach erwacht der Tag, mit frischen, modrigen Gerüchen und Vogelgezwitscher. Die Pidinger Mesnerin leitet bereits seit 1994 als Vorbeterin die Wallfahrt. Abwechselnd übernehmen Teilnehmer die Rolle des zweiten Vorbeters, des Vorsängers, des Kreuzträgers und des Lautsprecherträgers. „Ich wähle immer auch modernere Texte und Gebete aus, so dass man vom strikten Rosenkranzgebet etwas wegkommt. Das zieht auch jüngere Leute an“, erzählt Ulrike Traxl.
   So wie Brigitte Amberg (40). Mit ihrer Tochter Helena und deren Schulfreundin Franziska (beide 10) lädt sie an der Strailachkapelle in Piding im ersten Tageslicht zu einer „Statio“ ein. 2005 wurde das Kleinod als Kreuzweg-Kapelle neu gestaltet. „Für mich persönlich ist Kunterweg ein Tag zum Loslassen, Ausspannen, eine Auszeit, um die ,ergangenen Gedanken' kreisen zu lassen und Gott ganz intensiv zu spüren“, erzählt die Sozialversicherungsangestellte. Helena entzündet eine Kerze und spielt mit ihrer Freundin auf Block- und Querflöte das Stück „Irische Segenswünsche“. „Jesus ist für uns diesen letzten, steinigen Weg gegangen. Als Zeichen, dass wir immer mit ihm verbunden bleiben, sind wir nun alle eingeladen, einen Stein mit zu nehmen und bis zur nächsten Statio zu tragen“, gibt Brigitte Amberg einen Impuls. Am Wachterl werden ihr Vater, ihr Mann und ihr siebenjähriger Bub dazu stoßen, so dass drei Generationen der Familie nach Kunterweg kommen.
     Lagerhaus-Mitarbeiter Georg Rottenmoser aus Aufham wurde auf die Wallfahrt aufmerksam, als er seine Kinder als Kommunionkinder zur Schwarzbachwacht fuhr. Von dort das letzte Stück der Wallfahrt mitzugehen, war für die Kinder unter dem früheren Pfarrer Michael Kiefer Pflicht. „Da hab ich gedacht, da kann ich gleich zu Fuß mitgehen“, erinnert sich Rottenmoser. Ihm gefällt es, den anbrechenden Tag so bewusst zu erleben. Vor drei Jahren, als es gleich am Anfang stark geregnet habe, habe er sich freilich gefragt: „Warum habe ich mir das angetan?“
     „In der Nacht losmarschieren ist was ganz Besonderes“, findet auch Pfarrer Anghel. Er freut sich, dass ein Pfarrer aus Saarbrücken, der in Bad Reichenhall zur Kur ist und den er bei der Angerer Kirchweih kennen lernte, für ihn heute die Sonntagsmesse in Aufham hält. Er finde es auch reizvoll, so seine neue Heimat ganz anders kennen zu lernen und zu sehen, wie die Leute wohnen. „Wann kommst du zu Fuß so eine weite Strecke?“ Diese Entschleunigung hilft für ihn auch im Glauben, wie er später in der Predigt am Zielort sagen wird. Schnell, schnell im Vorübergehen könne sich dieser nicht vertiefen, ebenso wie man vieles vom Auto aus nicht wahrnehme.
     Nicht zu enden scheint die Etappe durch die Saalachauen, bis wir endlich im Marienheim des BRK ankommen. Dort servieren die Helfer der Rotkreuz-Bereitschaft, die die Wallfahrt von Anbeginn begleiteten, heuer mit acht Helfern, zum ersten Mal warmen Zitronentee. Wie viele von uns genießt Catalina (16), eine Austauschschülerin aus Kolumbien, das Sitzen, während sie sich die Brotzeit ihrer Angerer Gastfamilie schmecken lässt. Sie ist beeindruckt von der Wallfahrt: „Es ist sehr schön, der Ausblick, die Leute....“ Da sie in der lauten Hauptstadt Bogotá lebt, saugt sie die ländliche Ruhe so richtig auf. Und sie hat schon ihr bayerisches Lieblingsgericht gefunden: Bosna.
   Ab dem Altenheim stoßen die Viertklässler Vitus, Stefan, Felix und Michael zu uns, alle vier Fußballer und Ministranten. Sie verlieben sich sofort in meine Schäferhündin Zira (11) und dürfen sie abwechselnd führen. Wir beten in der Gruppe Rosenkränze und Fürbitten, singen Marien- und Taizélieder oder sprechen Gebete vom Liedzettel wie das Friedensgebet von Franz von Assisi.
   Nach dem Weg am Saalachsee entlang, der alten Wachterlstraße und den Schwarzbachalmen droht ein steiler Anstieg, für viele die härteste Prüfung auf der Wallfahrt. An der Schwarzbachwacht wartet schon Marille Lohwieser (78), jüngere Schwester des Wallfahrtsbegründers. Es tut ihr ein bisschen weh, seit einer Operation nur noch die Schlussetappe gehen zu können. 25 Mal ging sie die ganzen 32 Kilometer mit, so wie heute noch Irmgard Mörtlbauer (77), die den Ort Kunterweg einfach mag. „Man kann sich da halt Kraft holen durchs Wallfahren“, erzählt Lohwieser. Mit allen Sinnen zu spüren, wie der Tag zu leben anfängt, und der Kontakt mit Gleichgesinnten tue gut.
   Ab dem Wachterl trägt der „Kragei Sepp“, der frühere Kirchenpfleger Sepp Koch, das Kreuz. Er nutzt die Wallfahrt, um für seine Familie zu beten und für das erfahrene Gute zu danken. „Man freut sich, wenn man immer wieder die Gleichen trifft und auch Neue dazu kommen.“
   Die schmale Teerstraße bergab nach Ramsau führt an Kuhweiden und alten Bäumen vorbei, vor uns der teils verhüllte Hochkalter. Mein linkes Bein fühlt sich an, als sei es „ungespitzt in den Boden hinein geschlagen“ worden. Hündin Zira hat auch keine Lust mehr. Die Sonne kommt etwas heraus. Dass es unterwegs bewölkt und nur an die 15 Grad warm war, war ein Geschenk.
   Der letzte Abschnitt führt durch eine schattige Schlucht. Auf einmal öffnet sich das Laubdach. Vor uns steht die gewaltige Kunterweg-Kirche, ein Juwel des Rokoko, und alle Glocken läuten. Dankbar betreten wir die Kirche und feiern, begleitet von Martina Jakob an der Orgel und dem Ensemble „Vocale 1652“, miteinander mit Pfarrer Anghel Gottesdienst. Inzwischen sind wir 120. Die vier Buben und die beiden Pidinger Mädchen dürfen ministrieren. „Nicht der Beginn wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten.“ Das weise Wort von Katharina von Siena, das uns Ulrike Traxl mit auf den Heimweg gibt, trifft den Nagel auf den Kopf.       Veronika Mergenthal
Wie alles anfing
Gut erinnert sich Marille Lohwieser, jüngere Schwester des Wallfahrs-Begründers Franz Maier, noch an die Anfänge. Einmal seien die Angerer Trachtler nicht zur Trachtenwallfahrt nach Maria Eck, sondern nach Kunterweg gefahren. Da sei auch Franz Maier dabei gewesen und habe einen Mann getroffen, der aus Dankbarkeit über Heilung von einer Krankheit die Kirche wieder hergerichtet hat. „Das hat ihn so bewegt, wie der erzählt hat“, schildert Marille Lohwieser. „Mein Bruder war da ganz hin und her. Er hat gesagt: ,Das wird für Anger die Wallfahrt.' Der damalige Angerer Pfarrer Max Kolbeck sei gleich einverstanden gewesen, als ihm Franz Maier den Vorschlag einer jährlichen Fußwallfahrt unterbreitete.
   „Mit seinen besten Spezln und noch ein paar Leuten ist er die Strecke vorher abgegangen und hat mit dem BRK geredet. Oft waren wir um den guten Tee froh, wenn es geregnet hat und kalt war“, erzählt Lohwieser. So lang es ging, bis zu seiner schweren Erkrankung 1993, ging ihr Bruder die Kunterweg-Wallfahrt mit. „Er hat so so viel Wert drauf gelegt. Er hat sich dort wahrscheinlich die Kraft geholt.“ Die Angerer Pilger hätten es am Anfang nicht leicht gehabt, seien belächelt worden oder sogar beschimpft, weil sich manche Leute vom Lautsprecher frühmorgens gestört fühlten.
   Als er schwerkrank war, habe Franz Maier Ulrike Traxl und den „Kragei Sepp“ (Sepp Koch) gebeten, die Tradition beizubehalten und nicht aufzugeben. 1994 organisierte der Pfarrgemeinderat übergangsweise die Wallfahrt und in den Folgejahren übernahm das Ulrike Traxl.
 
Bericht und Fotos: Veronika Mergenthal
 
In stockdunkler Nacht brachen die Fußwallfahrer in Anger auf. Hier passieren sie die Wengkapelle zwischen Anger und Aufham.
Helena (10) an der Strailachkapelle in Piding beim Verteilen von Steinen zum symbolischen Mittragen an die Wallfahrer.
 
Mit Sepp Koch als Kreuzträger an der Spitze brach die Gruppe, in der alle Generationen vertreten waren, am Wachterl zur Schlussetappe auf.